Wie könnte es anders sein?

Eine Frage, die ich mir sehr häufig gestellt habe und immer noch stelle. Ja, sie hat mir den Schlaf geraubt. Bis ich eines Tages meinen ganzen Mut zusammen genommen und dafür gesorgt habe, das es anders wird. Meinen Weg, Sackgassen und Erfahrungen halte ich hier, in diesem "offenen Tagebuch" fest. 

Wir lesen uns, Barbara 


Kapitel 1


Heute bei Tinder 

15.06.2022

Er: Und was machst du so beruflich?
 
Ich: Ich bin Modedesignerin und Autorin. Ich habe vor 5 Jahren meine eigene Fair Fashion-Marke gegründet. Läuft aber seit Corona scheiße! Weil es privat auch nicht so läuft, orientiere ich mich gerade um...
 
Er: Oh, was ist denn privat passiert?
 
Ich: Ich habe letzten September geheiratet und das Scheidungsjahr läuft seit einem halben Jahr.
 
Er: Ok :D Und wie sieht deine Umorientierung aus?
 
Ich: Ich will viel Reisen. Bis jetzt war ich dieses Jahr in Israel, am Grab von Oskar Schindler. Ich war zweimal in der Ukraine zum Helfen, das war heftig. In Palma, reden wir nicht drüber. Dann habe ich beschlossen, einen Neuanfang zu wagen und habe einen Flug nach Sri Lanka gebucht. Eigentlich wollte ich 2 Wochen bleiben. Es war so grandios, dass ich zweimal meinen Rückflug umgebucht habe, um ihn dann zu verpassen. Vom Intimtattoo bis zum Abhängen mit der Mafia war eigentlich alles dabei. 

Er: Was? Und jetzt? 

Ich: Ich habe jetzt doch das Jobangebot zur Koksdealerin abgelehnt... Habe einfach nicht genug Eier. Dafür habe ich heute einen neuen Job als Stylistin angefangen. Aber eigentlich suche ich gerade nach coolen Leuten, die mit mir ein Hotel am Strand kaufen wollen. Habe da so ne Geschäftsidee... Es laufen gerade ein paar Gespräche mit einem TV-Sender. Die wollen den Neuanfang wahrscheinlich begleiten. Auf jeden Fall halte ich alles in meinem 2. Buch fest. Eine Art „offenes Tagebuch“. Achso, und am Wochenende habe ich aus Versehen Drogen genommen. Das erste und letzte Mal, aber irgendwie war es genial.
Und was machst du so?

Er: - OFFLINE -

#EinGanzNormalerJuni 
#LeiderWahr
#LäuftBeiMir.
#Beziehungsstatus:Scheidungsjahr
#PEACE


Kapitel 2


Neuanfang

 

Stell dir einmal vor, du könntest genau jetzt einen Neuanfang machen. Alles hinter dir lassen. Dein Zuhause, deinen Partner, deinen Job und alles, was dich bindet, das Leben weiter zu leben, welches du gerade führst. Wie würde dein Leben aussehen? Was würdest du anders gestalten? Was würdest du aus deinem alten Leben mitnehmen? Was passiert mit dir, wenn du darüber nachdenkst? Gefällt dir der Gedanke oder macht er dir eher Angst?
 
Genau an diesem Punkt stehe ich gerade. Sehr viele Ereignisse aus dem letzten Jahr haben dazu geführt, dass ich vieles verloren habe. Meinen Mann, meine Lebensidee, meinen Job, mein Zuhause. Klar, habe ich eine Wohnung, aber es fühlt sich nicht mehr wie ein Zuhause an. Natürlich habe ich Freunde, aber mein Exmann war nicht nur mein Partner, sondern auch mein bester Freund.
Wenn man einmal an den Punkt angekommen ist, vieles von dem, was einem richtig viel bedeutet, nicht mehr zu haben, dann kann das eine echte Chance sein: 
für einen kompletten Neuanfang.
 
Für diese Erkenntnis habe ich viel Zeit gebraucht. Am Anfang hatte ich große Angst. Existenzängste, Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung standen auf der Tagesordnung. Das hat sich natürlich auch auf mein Gemüt geschlagen. Schlafprobleme und Panikattacken. Wie viele Nächte liege ich nachts wach. Schlafe oft nur 4 Stunden und das oft auch nur, weil ich Hasch rauche oder ich Schlaftabletten einnehme. All das möchte ich nicht mehr. Ich möchte wieder schlafen können, mich gut fühlen. Ja, ich möchte wieder glücklich sein.
 
Ich weiß, dass ich mein Glück nicht finden werde, wenn ich einfach weiter mache und hoffe, dass es irgendwann, irgendwie besser wird. Ich muss aktiv werden. Meine Zukunft selbst gestalten. Einen Neuanfang wagen. Dabei möchte ich für alles offen sein. Ja, ich habe absolut keine Ahnung, wie dieser Neuanfang aussehen wird. Ich habe keine Ahnung, wo ich leben werde. Ich weiß noch nicht einmal, in welchem Land. Ich weiß nicht, womit ich meinen Lebensunterhalt bezahlen werde. Eigentlich weiß ich nur, dass ich viel im Ausland sein möchte, ich will so viel entdecken, andere Kulturen kennen lernen, anderes Essen essen, andere Musik hören, rausfinden, was ihre Lebensentwürfe sind. Ich weiß auch, dass ich keinen normalen Weg gehen werde. Ich will in alle Sackgassen gehen, ich will alle ungewöhnlichen Wege ausprobieren, nur so kann ich rausfinden, welcher Weg meiner sein wird.
 
Habe ich Angst? Ja! Auf jeden Fall! Aber ich weiß, dass ich auf dieser außergewöhnlichen Reise mein Glück finden werde. Ich werde wieder schlafen können und das Gefühl von einem Zuhause haben.
 
Ich weiß, dass es genial wird!


Kapitel 3


Diagnose Endometriose


Diagnose: Endometriose. Endlich. Endlich hat mein Leiden einen Namen bekommen. Die ganzen Schmerzen, meine Ohnmachtsanfälle während meiner Periode. Jetzt wusste ich, es gibt einen Grund dafür und noch besser, es kann mir geholfen werden. 



Kurz zusammengefasst: Bei einer Endometriose siedelt sich die Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter an. Ja, sie verteilt sich im ganzen Körper. Das ist soweit erst mal nicht gefährlich. Kompliziert wird es, wenn ein Kinderwunsch besteht. Bei mir ist die Endometriose leider sehr spät erkannt worden, außerdem wurden noch weitere Krankheiten festgestellt. Also sagte man mir, sollte ich einen Kinderwunsch haben, müsse ich mich operieren lassen und es dann mit einer künstlichen Befruchtung versuchen. Ein weiteres Problem bei mir sei es dann, das Kind lebend zur Welt zu bringen. Als Alternative sollte ich eine Hormonspirale ausprobieren, was sehr sinnvoll ist, wenn man sich gegen Kinder entscheidet. Ich hätte keine Periode mehr und es würde sich kein neuer Schleim bilden. 



Jetzt stand ich dort, 28 Jahre jung, gerade mit meinen mittlerweile Exmann die Wohnung meines Opas am Renovieren und musste aus dem nichts eine Wahnsinnsentscheidung treffen. Zu der Zeit war ich über sieben Jahre mit meinen Partner zusammen. Ich wusste, dass er einen großen Kinderwunsch hatte. Ich versuchte mit ihm zu reden, konnte aber leider nicht richtig zu ihm durchdringen. Ich suchte immer wieder das Gespräch, war aber letztlich doch irgendwie alleine mit der Entscheidung. Ich kann ihn auch heute noch sehr gut verstehen. Wenn man sich so sehr Kinder wünscht, ist es leider eine sehr harte Entscheidung. Da die Behandlung so schnell wie möglich beginnen sollte, musste ich diese alleine treffen. Sie ist mir sehr schwer gefallen. Ja, es war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Ich suchte das Gespräch mit Gleichgesinnten. Sie erzählten mir Horrorgeschichten von Totgeburten, jahrelange Krankenhausaufenthalten. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht die „goldenen 30er“ im Krankenhaus verbringen. Ich hatte gesundheitlich bis zu diesem Zeitpunkt genug durch. Ich spürte so viel Druck von außen. Ich wollte den gesellschaftlichen Druck, meinen Exmann, nennen wir ihn mal Kilian, gerecht werden, musste aber trotzdem auf mich achten. Auf das, was ich wirklich möchte. Aber was will ich denn? Was will man mit 28? Wie soll man so eine Entscheidung treffen? Damals dachte ich, es sei besser, ich wäre noch kränker, so dass mein Körper, meine Gesundheit, mir diese Entscheidung abgenommen hätte. 



Ich fragte mich, was ist dir am wichtigsten? Meine oberste Priorität war, und ist es bis heute, meine Gesundheit. Ich wollte leben. Ich wollte reisen, ich wollte meine Marke weiter aufbauen. 
Ich fragte mich, ob ich mir unter diesen Umständen eine Schwangerschaft psychisch zutrauen würde? Alles sprach dagegen. 

Ich konnte nicht anders, als mir die Spirale einsetzen zu lassen und keine leiblichen Kinder zu bekommen. Es fiel mir sehr schwer. Ich habe innerlich jede Sekunde geweint, aber ich wusste es war die richtige Entscheidung. Um vor Kilian, Familie, Freunden und der Gesellschaft standhalten zu können, machte ich einen auf harte Babsi und lächelte. Heute frage ich mich des Öfteren, wie ich unter diesem Druck nicht zusammen gebrochen bin. 



Kilian war mit der Entscheidung, keine eigenen Kinder zu bekommen, überhaupt nicht einverstanden. Er war wütend. Wütend auf mich, dass ich es noch nicht einmal probieren möchte, wütend auf die gesamte Situation. Es tat mir sehr leid für ihn. Aber ich konnte nicht anders. Ich versuchte, stark zu sein, bei mir zu bleiben und hinter meiner Entscheidung zu stehen. 
Ich fühlte mich so missverstanden. Ich war so alleine. Ich hatte sehr große Angst davor, dass mich Kilian deswegen verlassen oder mich nicht mehr lieben würde. 



Es war hart. Ja, so hart, dass ich mir heute immer noch die Tränen wegwischen muss, wenn ich darüber nachdenke oder diese Zeilen schreibe. Aber meine Entscheidung war getroffen. 




Kapitel 4


Tabuthema


Damals dachte ich, das Schlimmste sei geschafft. Da wusste ich aber noch nicht, dass der schwierigste Part noch auf mich wartet: unsere Gesellschaft.

Ich bin von Anfang an sehr offen mit dem Thema Endometriose umgegangen. Warum auch nicht? Ich dachte mir, es ist ja schließlich nichts anderes, als sich ein Bein zu brechen und die aufregende Story vom Fall der Schaukel zu erzählen. Aber genau das ist es wohl doch nicht.

Alle um mich herum bekommen gerade Kinder. Sie zelebrieren es auf Social Media, feiern Partys für das Geschlecht, die Babyparty, die Einweihung des Kinderzimmers – zeigen mir ihre Mütterpässe und erzählen von ihrer Reise durch die Schwangerschaft. Ich liebe ihre Geschichten. Ich freue mich für Frauen, die ihr Glück gefunden haben. Ich finde es toll, dass sie mich an ihrer Reise teilnehmen lassen. Schwer wird es oft, wenn ich meine Geschichte erzählen möchte. Ja, meine Geschichte ist anders. Aber es ist meine. Ich möchte auch erzählen dürfen, ich möchte mich auch mitteilen dürfen, ohne mich dabei schlecht zu fühlen. Denn nur weil meine Geschichte anders ist, hat sie trotzdem ihre Daseinsberechtigung. Sie ist nicht besser, nicht schlechter und sie ist nicht selten.

Mir ist aufgefallen, dass ich viele Menschen mit meiner Situation überfordere. Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Ich habe mich oft gefragt, woran das liegt. Ich glaube, wir müssen mit dem Thema offener umgehen. Darüber sprechen. Den Menschen die Angst nehmen. Aber warum fällt es uns so schwer?

Ein paar Situationen, die ich ertragen musste, beantworten diese Frage sehr schnell.

Nachricht auf WhatsApp: „Hey Barbara, ich habe darüber nachgedacht, dass du keine Kinder bekommen kannst. Es tut mir sehr leid für dich, aber ich gehe so in meiner Mutterrolle auf, dass ich finde, dass unsere Lebensentwürfe nicht mehr zusammen passen. Deswegen ist es besser, wenn wir nicht mehr so viel Kontakt haben.“

„Oh mein Gott! Du kannst keine Kinder bekommen? Da hätte mein Leben keinen Sinn mehr!“

Er: „Wieso trinkst du denn keinen Alkohol? Bist du schwanger?“
Ich: „Nee, ich kann nicht mal Kinder bekommen.“
Seine Frau etwas später: „Also ich finde es unmöglich von dir, dass du meinen Mann in der Runde so bloßstellst!“

„Ich finde es ja gut, dass du mit dem Thema offen umgehen willst. Aber du kannst auch einfach nichts sagen oder behaupten: Ich will später Kinder. Dann fühlen sich die anderen nicht so schlecht.“

„Also, dass du es noch nicht einmal probieren willst? Dafür habe ich kein Verständnis! Kinder sind das Tollste auf der Welt!“

Das ist nur ein Teil der Reaktionen, die ich ertragen musste. Jedes Mal fühlt es sich an, wie ein Schlag in den Magen. Ich bin froh und dankbar, dass ich die Stärke habe, bei solchen Antworten nicht in Tränen auszubrechen und wegzulaufen. Schwer fällt es mir dennoch jedes Mal. Ich wünschte mir einfach mehr Verständnis für das Thema. Was ist so dramatisch an einem Leben ohne Kinder? Ich meine, wir leben im 21. Jahrhundert. Wir müssen heute keine Kinder mehr bekommen, damit unser Überleben im Alter gesichert ist. Wir Frauen dürfen nicht nur wählen gehen, wir dürfen unser Leben (zumindest auf einem Teil der Welt) gestalten, wie wir wollen. Wir dürfen studieren, arbeiten, uns für das Gendern starkmachen - oder es sein lassen und uns für ein kinderloses Leben entscheiden. Wir dürfen Frauen lieben und uns sexuell austoben. Wir dürfen glücklich sein.

Also warum fällt es uns so schwer, wenn jemand doch mal aus der „Norm“ fällt?

Viele Studien haben gezeigt, dass Frauen sich oft überfordert fühlen mit den vielen Möglichkeiten, mit dem Erwartungsdruck unserer Gesellschaft und dem Einfluss von Social Media. Die „perfekte Frau“ soll heute ja alles sein. Sie muss Kinder wollen, im richtigen Moment - nicht zu früh und nicht zu spät.  Klar die richtige Anzahl. Eins ist schwierig, man will ja kein verwöhntes Einzelkind und irgendwie auch ist es ja Ego, aber drei? Bei der Überbevölkerung? Und fünf ist natürlich asozial. Dazu benötigt Frau natürlich den perfekten Mann. Ach ja, Karriere: Als emanzipierte Frau muss man natürlich arbeiten gehen. Nicht zu wenig, aber auch auf keinen Fall zu viel, sonst ist man eine Rabenmutter. Also, während sie natürlich gut gelaunt ihrer Karriere nachgeht, muss sie dafür sorgen, dass zu Hause alles läuft. Selbstverständlich soll sie dazu Topmodel-schlank sein und die Kinder, die sie bekommen hat, darf man ihr nicht ansehen.

Ist das der Grund für so viel Unverständnis? Sind wir in unserem Denken vielleicht doch noch nicht so frei, wie wir glauben zu sein?

Hilfe!

Leide ich unter Endometriose?

Du hast auch manchmal das Gefühl, unter Endometriose zu leiden? 
Du hast folgende Beschwerden?

  • starke Schmerzen während der Monatsblutung
  • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder danach
  • Schmerzen oder Blutungen, wenn Blase oder Darm entleert werden
  • unerfüllter Kinderwunsch
  • starke oder verlängerte Monatsblutungen
  • Unterbauchschmerzen, die von der Monatsblutung unabhängig sind und sehr heftig sein können



Hier findest du alle Informationen, die du benötigst!


Kapitel 5


Die Adoption


Ok. Keine leiblichen Kinder für mich, aber es gibt ja noch zahlreiche andere Wege, Kinder zu bekommen. Zum Beispiel eine Adoption. Ich dachte damals mit meinem Partner, das sei das Richtige für uns. Also informierten wir uns.

Wie läuft so eine Adoption ab?

Zunächst einmal sei gesagt, dass es ganz viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, ein Kind zu adoptieren. Inlandsadoption, Auslandsadoption, freie Träger, staatliche Träger, Caritas u.v.m.

Aus den verschiedensten Gründen hatten wir uns für eine Inlandsadoption entschieden. Wir fanden die Idee schön, ein neugeborenes Kind aufzunehmen (was meist nur bei einer Inlandsadoption möglich ist) und hatten kein Problem damit, dass das Kind Kontakt zu den leiblichen Eltern haben könnte. Jetzt bedeutet Inlandsadoption nicht innerhalb Deutschlands – sondern innerhalb der Stadt bzw. Gemeinde, in der man lebt. Sprich, unser Kind würde in Berlin geboren wären. Nachdem wir den Informationsabend besucht hatten, mussten wir die Adoption beantragen. Hier sollten wir schon einmal grob eingrenzen, welches Risiko wir bereit sind, einzugehen. Ok. Stop. Risiko? Was für ein Risiko?

Risiko bedeutet hier, bin ich bereit ein neugeborenes Kind zu adoptieren, bei dem man nicht weiß, ob das Kind gesund ist. „Klar“, dachte ich. „Wenn ich selbst ein Kind bekomme, weiß ich ja auch nicht, ob es eventuell krank ist.“ Der Unterschied ist aber, wenn ich selbst schwanger bin, kann ich vieles selber beeinflussen. Wenn das Kind von einer anderen Frau ausgetragen wird, kann man nur hoffen.

Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft ist zum Beispiel ein häufiges Thema. An „Fetalen Alkoholspektrumstörungen“ (FASD) leiden unter anderem Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. Man sieht es den Kindern meistens nicht an, aber sie leiden oft unter starken Verhaltens- oder auch Entwicklungsproblemen. Bei anderen Substanzen können auch Fehlbildungen entstehen. Ein weiteres Risiko ist unter anderem Inzest. Manchmal ist die Mutter im Teenageralter und wird von ihrem Vater missbraucht. Frauen geben auch oft ihr Kind zur Adoption frei, wenn das Kind durch eine sexuelle Vergewaltigung zu Stande gekommen ist und sie zu spät erkannt haben, dass ein Kind dabei entstanden ist. Man konnte auch aus verschiedensten körperlichen und geistigen Behinderungen auswählen.

„Wow. Hallo Realität“, dachte ich mir. Mit dem Wissen, dass es wahrscheinlicher ist, ein Kind zu bekommen, je größer die Bereitschaft ist, ein Risiko einzugehen, fingen wir an „auszusortieren“.

Weißt du, für was du dich entschieden hättest? Könntest du deinem Kind eines Tages erklären, dass ihr oder sein Vater ein Vergewaltiger ist?

Nachdem wir den ausgefüllten Antrag beim Jugendamt abgegeben haben, wurden wir auf eine Warteliste für ein Adoptionsverfahren gesetzt. Wir wussten, dass es mindestens 1,5 Jahre dauern würde und haben die Zeit genutzt, unsere Hochzeit zu planen. Ja, ohne eine Heirat ist es in Deutschland quasi nicht möglich, ein Kind als Paar zu adoptieren. Corona-bedingt haben wir zwei Wochen vor dem Beginn des Verfahrens geheiratet.

Was ist die deutscheste Sache überhaupt: Um ein Kind über eine deutsche Behörde zu adoptieren, muss man als erstes einen Kurs bei der Volkshochschule belegen. „Was soll das?“, dachte ich mir damals. Heute denke ich anders darüber. Der Kurs ist dafür da, dich auf das weitere Verfahren und das Leben mit einem Adoptivkind vorzubereiten. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es tatsächlich von Stadt zu Stadt – oder auch Gemeinde zu Gemeinde – verschieden sein kann.

Kurz vor Beginn des Kurses meldeten sich mein Körper und Psyche bei mir. Schlafstörungen, Panik und Angstattacken. Ich hörte hin, was will mir mein Unterbewusstsein hier sagen? Aber die Antwort ignorierte ich.

Im Kurs wurde mir bewusst, was es wirklich heißt, ein Kind zu adoptieren. Das Verfahren, angefangen von Hausbesuchen und zahlreichen Gesprächen mit dem Jugendamt, vorstellen bei einem Amtsarzt, damit er psychische und körperliche Gesundheit bestätigt. Schreiben von Berichten über die eigene Kindheit bis hin zur Offenlegung der Konten. Danach entscheidet sich das Amt, ob man als potentielle Eltern überhaupt in Frage kommt oder nicht. Sollte die Entscheidung positiv ausfallen, kommt man in eine Art Pool und wartet. Das Jugendamt macht sich für jedes Adoptivkind auf die Suche nach den richtigen Eltern. Das bedeutet, sollte beispielsweise eine Mutter während der Schwangerschaft entscheiden, ihr Kind direkt nach der Geburt zur Adoption frei zu geben, wird das Jugendamt informiert. Nach einigen Gesprächen wird eine Art Profil angefertigt. Hier werden alle Wünsche der Mutter berücksichtigt. Sie kann zum Beispiel entscheiden, welche Sexualität die Eltern haben sollen. Oder Herkunft, Alter, ob sie Kontakt zu ihrem Kind wünscht... Anhand der Wünsche macht sich das Jugendamt auf die Suche nach einem geeigneten Elternpaar aus dem von ihnen angefertigten Pool. Hat es eines gefunden, wird dieses jedoch erst nach der Geburt des Kindes benachrichtigt. Da die leibliche Mutter bis zu sechs Wochen nach der Geburt das Recht hat, ohne weitere Probleme das Kind zurück zu fordern, möchte man eine Enttäuschung umgehen, wenn die Mutter direkt nach der Geburt doch entscheidet, das Kind behalten zu wollen. Verständlich. Aber was heißt das für die Adoptiveltern?

Für die Adoptiveltern heißt es warten. Warten auf einen Anruf. Ein Anruf, der bedeutet: „Wir haben ein Kind für Sie.“ Sobald das Telefon klingelt, dass Jugendamt dran ist, muss man alles stehen und liegen lassen. Ab jetzt heißt es: „Ok, wir sind Eltern und müssen jetzt unser Kind aus dem Krankenhaus abholen!“ Man fährt direkt nach einem kurzen Gespräch mit dem Jugendamt in das Krankenhaus und bekommt sein Kind übergeben – Sturzgeburt! Der Anruf kann allerdings auf sich warten lassen. Manchmal sind es sechs Monate – Manchmal sind es fünf Jahre. Alles ist drin. Da zwischen Anruf und Übergabe nicht mehr als fünf Stunden liegen sollten, ist es nicht ratsam, in den Urlaub zu fahren, sagte man uns damals. Sollte man nämlich nicht innerhalb von vier Stunden in Berlin beim Jugendamt sein können, würden sie das Kind einem anderen Paar übergeben.

Sich richtig auf diesen Tag vorzubereiten, ist auch schwierig. Will man schon ein Kinderzimmer einrichten, wenn es noch nicht einmal sicher ist, dass man überhaupt ein Kind bekommt? Will man jeden Tag auf Windeln schauen, wenn man weiß, dass man vielleicht noch Jahre auf den ersehnten Anruf warten muss?

Nachdem man das Kind bekommen hat, heißt die erste Hürde, die ersten sechs Wochen abzuwarten. Hier hat die Mutter noch Zeit, ihre Entscheidung zu revidieren. Dafür habe ich absolutes Verständnis. Nach einer Geburt ist der Körper voll mit Hormonen, da kann man schon mal Entscheidungen treffen, die man eigentlich gar nicht möchte. Oder stell dir einmal vor, dein Kind kommt mit einer Behinderung zur Welt. Du bist im ersten Moment so geschockt, dass du glaubst es nicht schaffen zu können. Aber der erste Schock lässt nach und du glaubst, es doch schaffen zu können. Jetzt hast du dein Kind schon zu Adoption freigegeben. Ich finde, du als leibliche Mutter solltest das Recht haben, dein Kind wieder zu bekommen – natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt. Sind die sechs Wochen abgelaufen, ist man für ein weiteres Jahr „Eltern auf Probe“. Hier wird man vom Amt begleitet und man hat auch hier, als Adoptiveltern das Recht, die Entscheidung zu überdenken.

Sollten sich nach diesem Jahr das Jugendamt und die Adoptiveltern für eine Adoption entschieden haben, erst dann ist man, rechtlich gesehen, Erziehungsberechtigter.

An dieser Stelle ist es mir wichtig, einmal über die Frauen zu reden, die ihr Kind zu Adoption frei geben. Ich habe in vielen Gesprächen immer wieder Unverständnis für die leiblichen Mütter rausgehört. Ich persönlich denke, dass es die selbstloseste Entscheidung ist, die eine Mutter treffen kann. Es gibt so viele Gründe, sei es gesundheitlich, emotional oder auch aus anderen Lebenssituationen heraus, warum eine Mutter glaubt, dass ihr Kind bei einer anderen Familie besser aufgehoben ist, als bei ihr selbst. Hier sollten wir sie unterstützen und nicht verurteilen. Ich glaube, sich selbst einzugestehen, dass man nicht in der Lage ist, das Kind groß zu ziehen, bedarf einer Riesenportion Mut. So eine Entscheidung kann man nur aus Liebe treffen. Ja, aus Mutterliebe.

Was ist eigentlich mit den Vätern? Das frage ich mich bis heute auch andauernd.

Als ich damals in diesem Kurs der Volkshochschule saß, wir mit Adoptiveltern sprachen und ich den ganzen Prozess vor mir sah, konnte ich keine Kraft in mir finden. Mir war das alles zu viel. Selbstständig in einer Corona-Pandemie, meine Krankheit und die ganzen Operationen. Der Stress mit der Hochzeit. Ständig müde zu sein. Keine Ruhe zu finden. Keine Kraft zu spüren. Ich fragte mich, wie soll ich diesen nächsten Kampf überstehen? Ich konnte nicht anders. Ich musste den Pause-Knopf drücken.